Das mein Körper sich in Bolivien nicht nur auf die Höhe, sondern auch auf andere Essgewohnheiten (eigentlich bin ich Vegetarierin) einstellen müsste war mir von vornherein klar. Meine Gastmutter empfing mich an meinem ersten Tag mit frischer Limonade (natürlich mit Wasser aus der Leitung ) und einer Majadito (typisches Cambagericht: Reis eingekocht mit gestampftem Fleisch und wenigem Gemüse). Ich beschloss ihr erst später zu erzählen, dass ich Fleisch nicht gerne esse, freute sie sich doch so sehr das ich endlich da war und sie mir gleich am ersten Tag ihr Lieblingsessen kochen konnte...
Auf die Frage „Hay algo sin carne?“ (Gibt es etwas ohne Fleisch?) bekomme ich hier in Bolivien meist ein freudiges Lächeln zur Antwort: „Si! Claro! Hay pollo picante, pollo frito, pollo con arroz.....“ (Ja, klar! Wir haben scharfes Huhn, fritiertes Huhn, Huhn mit Reis….).
Warum man kein Fleisch essen will ist schwer zu erklären, in einem Land in dem es Huhn mit Reis schon zum Frühstück gibt und Fleisch als besonders nahhaftes Lebensmittel gilt. Nie werde ich den Blick meiner Gastoma vergessen, die ganz entsetzt zu mir sagte: „Pero porque? Los animales no tienen nada!“ (Aber warum?-Die Tiere haben doch nichts!).
Die bolivianische Flexibilität kommt aber auch den Vegetariern in Bolivien zu Gute. Sobald sie verstanden haben, dass weder Kuh, noch Schwein, noch Huhn auf dem Teller erwünscht sind wird die Keule einfach rausgenommen. Die fleischähnlichen Reststücke, erklärt der Kellern mit gewissem Stolz, das ist Tofu! - nur wenige Restaurants würden diesen verwenden, ich solle morgen zum Mittagessen auf jeden Fall wiederkommen....- der „Tofu“ schmeckt verdächtig nach Huhn, aber was soll´s der Hunger ist gestillt...:-)
Die boliviansche Esskultur ist im Gegensatz zu anderen lateinamerikanischen Ländern nicht von Frijoles (Bohnen) und Maistortillas geprägt. Huhn in sämtlichen Formen und Arten, von der Kralle bis zum Kopf wird im ganzen Land mit Genuss verzehrt. Essen abzulehnen wird von vielen Einheimischen als unhöflich empfunden und Teller werden nahezu immer aufgegessen. Viele Bolivianer schätzen das Essen sehr. Reste werde nicht entsorgt, sondern wiederverwertet, oder an Leute weitergegeben die noch Verwendung dafür haben.
Ich schätze diese Einstellung sehr und stelle mir vor, wie absurd unser Umgang mit Essen in Deutschland für viele Menschen hier erscheinen würde. Es lohnt sich die verschiedenen bolivianischen Spezialitäten zu probieren, ich versuche mich den Esskulturen anzupassen und doch stößt auch mein europäischer Magen an Grenzen. Die Ernährungsumstellung machte mir anfangs keine Probleme, bis es auch mich erwischte - Bakterien und Salmonellen. Nach einer 4 wöchigen Antibiotikakur ging es mir endlich wieder gut, doch ein kleiner Nachgeschmack ist geblieben:
Vor einer Woche fuhr ich nach Santiango de Okola, unserem Dorfentwicklungsprojekt
und wartete am Strand auf die anreisenden Gäste. Eine alte Frau hütete am Strand ihr Schwein und ich setzte mich zu ihr. Sie sprach kein Wort Castellano, was sie nicht davon abhielt mir Geschichten aus ihrem Leben zu erzählen. Vielleicht ging es um Okola, ihre Familie, ihr Schwein – ich bin mir nicht sicher, aber ich hörte ihr aufmerksam zu.
Ab und an wechselten wir unseren Sitzplatz, damit das angleinte Schwein die wenigen Grasbüschel am Strand voll und ganz abgrasen konnte. Die alte Frau hiefte ihren gebrechlichen Körper mit Hilfe eines Stockes in die Höhe, deutete mir mit ihren langen Fingernägeln meinen neuen Sitzplatz und ließ sich mit ihrem Schwein erneut nieder.
Nach ca. 1,3 Stunden Wartezeit in der Mittagshitze kramte sie aus ihrem Tragebeutel einen alten, halb vertrockneten Choclokolben (großer Maiskolben). Mit ihren verkrusteten Händen bot sie mir die abgepulten Kerne, die in einer kleinen Plastiktüte schwitzten an.
Ich erinnerte mich an die Magenkrämpfe und Arztbesuche der letzten Wochen und kaute etwas zögerlich auf den geschmacklosen Kernen. Es war offensichtlich, dass sich die Frau freute ihr Mahl mit mir teilen zu können und im Gegenzug schenkte ich ihr eine kleine Flasche Cola. Ungewohnt für sie aus einer Flasche zu trinken lief ihr die braune Köstlichkeit beim ersten Versuch aus dem zahnlosen Mund, doch ein Lächeln machte die Unannehmlichkeit wett und beim zweiten Versuch gelang es schon viel besser.
Auf meinem Heimweg zur Hütte freute ich mich über unsere Begegnung und dachte erneut darüber nach wie nah man sich sein kann, wie man miteinander kommunizieren kann, ohne ein Wort des anderen zu verstehen. Die geteilen zwei Stunden mit der Alten genoss ich sehr, doch der Choclo lag mir im wahrsten Sinne des Wortes schief im Magen. Seit „meinen Bakterien“ bin auch ich etwas vorsichtiger geworden, doch in manchen Momenten ziehe ich es noch immer vor die besondere Situation zu schützen, anstatt mit einer Übervorsicht den Gegenüber zu verletzen.
Diesmal hatte ich Glück, der schlechte Choclo war am nächsten Tag hinfort und vergessen und was geblieben ist, ist eine besondere Erinnerung, an eine nette, herzliche, alte Frau die zwei besondere Stunden mit mir teilte...