Yunguilla, eine kleine Gemeinde im Norden Ecuadors, liegt nur 1,5 Stunden von Quito entfernt - doch die wenigsten wissen von ihrer Existenz. Das könnte sich bald ändern. Denn Yunguilla hat es geschafft, sich über die letzten Jahre zu einem Vorzeigemodell für gemeindebasierten Tourismus zu entwickeln und lockt damit schon ganze Schul- und Studentengruppen “mitten ins Nirgendwo”.
Immer mehr inländische Touristen besuchen Yunguilla, an die 4.000 Besucher waren es 2018, und wenn es so weitergeht, werden auch auf Nachhaltigkeit bedachte Touristen aus aller Welt bei einem Ecuadorbesuch auf Yunguilla stoßen. Immerhin ist Ecuador bis heute das einzige Land Südamerikas, in welchem der Tourismussektor offiziell dreigeteilt ist: Es wird zwischen dem privaten, dem öffentlichen und dem gemeindebasierten Tourismus unterschieden.
Gemeindebasierter Tourismus in Südamerika
Allgemein bezeichnet gemeindebasierter Tourismus einen sozialverantwortlichen, von Gemeinschaften vor Ort geschaffenen Tourismus im Einklang mit Mensch und Natur. Abseits des Massentourismus soll so ein Tourismus geschaffen werden, von welchem vor allem die ansässige Bevölkerung profitiert.
Negative Auswirkungen auf Mensch und Natur durch den Tourismus sollen so möglichst weit reduziert werden. Stattdessen gestaltet die lokale Gemeinde aktiv den Tourismus mit und profitiert selbst von der nachhaltigen Entwicklung. Touristen wiederum gewinnen authentische Eindrücke in das Alltagsleben der Gemeinden und tragen durch ihren Besuch aktiv dazu bei, ihre Reise nachhaltig zu gestalten und auf ganz persönliche Highlights abseits der Pfade zu stoßen.
Einen guten Überblick über die Definition von gemeindebasiertem Tourismus bietet Tourism LOG, eine nach eigenen Angaben “Plattform für die kritische Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen, ökologischen sowie ökonomischen Auswirkungen des Tourismus.”
Immer mehr Gemeinden in Südamerika, welche sich überwiegend durch Viehzucht und Landwirtschaft erhalten, versuchen, auch den Tourismussektor für sich zu gewinnen. Die größte Herausforderung stellt für sie allerdings die richtige Aufmerksamkeit dar: Wie überzeugt man die Menschen, sich mitten ins Nirgendwo aufzumachen, an Orte, die kein “Machu Picchu” oder riesige Wasserfälle aufweisen können? Ernest Cañada hat dazu für Tourism Watch einen interessanten Artikel veröffentlicht: Gemeindebasierter Tourismus in ländlichen Regionen - Vermarktung als zentrale Herausforderung.
Gemeindebasierter Tourismus in Yunguilla
Die Gemeinde von Yunguilla hat erkannt, was vielen anderen Gemeinden noch verwehrt blieb: Es braucht nicht unbedingt eine uralte Inkastätte, Geysire oder besondere Felsformationen, um attraktiv für Besucher zu sein. Manchmal reicht schon der Alltag der Dorfbewohner aus, besonders in einer so schönen Umgebung wie der von Yunguilla.
Nebelwald und Kolibris, Felsenhähne und Brillenbären gibt es auch anderswo in Ecuador - doch nicht überall gelangen Besucher hin, wenn nicht nebenan noch einer der höchsten Wasserfälle der Welt plätschert. Yunguilla hat sich ganz dem Schutz des Nebelwalds verschrieben. Das war nicht immer so, schließlich musste den Einwohnern erst selbst bewusst werden, was für einen Schatz ihre Natur darstellt, für sich und für andere - und dass sich ihre Einkünfte aus der Landwirtschaft und der Viehzucht noch erhöhen, wenn sie aktiven Umweltschutz betreiben und Besuchern einen Einblick in ihren Alltag gewähren.
Ein Dorf im Wandel
Vor über 23 Jahren gelangten die ersten Touristen von der Gemeinde Maquipucuna über eine mehrstündige Wanderung bis nach Yunguilla. Das Dorf war geprägt von der Viehzucht und der Kohleherstellung. Jede der zwanzig Familien besaß Stiere, Schweine und Hühner, im Haus befand sich meistens noch eine kleine Meerschweinchenzucht. Platz für Touristen war keiner.
Die meisten Besucher interessierten sich mehr für den Weg von Maquipucuna nach Yunguilla, der über mehrere Gipfel der Andenkette durch den Nebelwald führt, als für das Dorf selbst. Sie kamen, fotografierten die Bäume und Tiere des Nebelwalds und gingen wieder, um woanders zu übernachten.
1998 kamen die ersten Freiwilligen aus den Niederlanden und den USA nach Yunguilla, um gemeinsam mit und für die Gemeinde zu arbeiten. Zeitgleich gelangten immer mehr ausländische Besucher in die Gemeinde. Im Jahr 2000 beschlossen schließlich 50 Gemeindemitglieder, jeweils Kühe, Schweine und Hühner zu verkaufen, um sich von dem Erlös gemeinsam ein großes Stück Land zu kaufen. Auf diesem Stück Land wurde die Stiftung der Gemeinde gegründet, heute befindet sich dort das lokal betriebene Restaurant der Gemeinde.
Seit 2013 ist die Nebelwaldregion um Yunguilla außerdem ein offiziell eingetragenes Naturreservat.
Wegen der ansteigenden Zahl der Touristen und mit hoffnungsvollem Blick auf die touristische Zukunft der Gemeinde wollten die Einwohner Yunguillas zunächst ein Hotel erbauen, wie sie es auch aus Quito kannten. Gemeinsam mit den Freiwilligen erarbeiteten sie jedoch einen neuen Ansatz: Es sollte kein Hotel nur für Touristen in Yunguilla geben, sondern auch die Einwohner sollten von neuen Infrastrukturen profitieren. Für eine bessere Teilhabe von beiden Seiten sollten Touristen direkt bei Familien unterkommen.
Die Bank gewährte der Stiftung Yunguilla einen Kredit, von welchem dreißig Mitglieder der Gemeinde einen Teil der Summe bekam, um das eigene Haus und den Garten vergrößern und für Touristen aufbereiten zu können. Einige bauten komplett neue Häuser mit einem großen Untergeschoss samt Wohnbereich für die Familien und einem Obergeschoss, bestehend aus ein bis zwei Zimmern und einem Bad für die Besucher.
Das Ortsbild von Yunguilla ist dadurch ein anderes geworden. Viele der modernen Häuser aus Ziegeln und Holz, die man verstreut über Yunguilla entdeckt, sind erst zwei bis drei Jahre alt. Violette, pinke und rote Blumen ranken sich um Gatter und Eingangsbereiche.
Fragt man Germán, eine der treibenden Kräfte für den gemeindebasierten Tourismus in Yunguilla, was dieser Wandel für die Einwohner bedeutet, dann lacht er:
“Es ist ja nicht so, dass wir unbedingt an unseren alten Häusern festhalten wollten. Wir haben früher nur nie daran gedacht, diese umzubauen oder neu aufzubauen. Das war einfach nichts, was uns hier in den Sinn kam - Touristen bei uns zu Hause, anstatt in einem Hotel! Überhaupt: Touristen in Yunguilla! Die Freiwilligen haben unsere Sichtweise verändert. Und warum sollten nur die Menschen in Quito schöne Häuser besitzen? Wir leben gerne in unseren neuen Häusern, haben gemeinsam überlegt, wie wir diese am besten gestalten, damit sie für uns und für Besucher gleichermaßen attraktiv und praktisch sind.”
Der Wandel ist nicht nur äußerlich an der veränderten Infrastruktur Yunguillas erkennbar, sondern auch an den Einwohnern selbst: Es gibt junge und alte Menschen in Yunguilla, Kinder, Jugendliche, Erwachsene und Senioren. Die Jugendlichen, welche normalerweise ab 16 Jahren nach Calacali oder Quito zogen, um zu studieren oder arbeiten, können nun öfters in Yunguilla bleiben oder nach einem Studium zurückkehren.
Sie bringen sich aktiv in die verschiedenen Gemeindeprojekten ein. Gleich vier Jugendliche arbeiten als Koch in dem Gemeinderestaurant, noch mehr helfen in der Küche aus. Andere stellen Marmelade, Käse und Kunsthandwerk her oder arbeiten neben ihren Aufgaben in der Landwirtschaft noch als Touristenführer.
“Wenn man den gemeindebasierten Tourismus gut entwickelt, dann stellt er eine gänzlich neue Lebensalternative dar für Gemeinden”, so Germán. “Hier stellen wir Käse und Marmeladen her, die wir nicht nur an Touristen verkaufen können, sondern auch selbst verzehren. Wir benötigen jetzt keine Lieferungen aus Quito mehr. Beide Seiten profitieren, die Besucher, welche lokal produzierte, frische Produkte genießen können, und wir.”
Auch was Milchprodukte angeht, achtet die Gemeinde auf die Regionalität. Angekauft wird nur Milch von Gemeindemitgliedern oder dem Reservat Yunguilla angehörenden Familien. Damit auch Familien mit wenig Milchproduktion von der Käserei profitieren können, darf jeder das verkaufen, was seine Kühe hergeben: Täglich zehn oder zwanzig Liter Milch werden ebenso angenommen wie ein einzelner Liter Milch. Auch für eine interne Absicherung hat die Gemeinde wegen des komplizierten Gesundheitssystems gesorgt. Jedes Gemeindemitglied zahlt monatlich einen Dollar in eine Notfallkasse ein. Sollte dann eine medizinische Notfallsituation eintreten, wird die betroffene Person oder Familie finanziell unterstützt. Die Gemeinde Yunguilla hat sich zu einem Vorzeigemodell für gemeindebasierten Tourismus entwickelt - und durch ihre Vorreiterrolle in Ecuador noch an zusätzlicher touristischer Attraktivität gewonnen!
Abseits der Pfade
Wer nach Yunguilla will, hat es heutzutage einfach. Die meisten schauen auf der Fahrt von Quito nach Yunguilla noch bei Mitad del Mundo vorbei, der “Mitte der Welt”, um mal mit je einem Bein auf den verschiedenen Erdhalbkugeln gestanden zu haben, und das Museum an der Äquatorlinie zu besuchen.
Nach einer rund einstündigen Fahrt ab Quitos Zentrum (ohne Abstecher zur Mitte der Welt) passiert man Calacali, die Gemeinde, in welche noch bis vor Kurzem die meisten Einwohner Yunguillas abwanderten. Hier entdeckt man die ersten Schilder am Straßenrand, die auf die “Comunidad Yunguilla” aufmerksam machen.
Kurz nach Calacali verlässt man die breite Straße und biegt auf einen gut geteerten Weg ab, welcher sich nach 15 Minuten in eine Schotterpiste verwandelt. Nach weiteren 15 Minuten ist man in einer anderen Welt, bestehend aus Palmen, Papayas und bunten Schmetterlingen. Orchideen bilden bunte Farbkleckse am Wegesrand, immer wieder hört man Vögel keckern und sieht ganze Wolken von ihnen in den tiefblauen Himmel aufsteigen.
Die Welt ist grüner hier, voller Dschungelgewächse und den Andenketten im Hintergrund, die Luft frischer. Und es ist still. In Yunguilla angekommen, zeigen einem die Einwohner den Nebelwald. Hier gibt es uralte Schmugglerpfade, die Culuncos, leckere Chigualcan-Früchte, die zu Marmelade verarbeitet werden, und einen Aussichtspunkt, von welchem man Greifvögel vorbeiziehen sehen kann. Raubkatzen und Tapire tappten hier ebenso schon in die neu aufgestellten Fotofallen wie die bedrohten Brillenbären.
Yunguilla ist keine Ruinenstätte und bietet keine Salzterrassen oder rosa Lagunen. Yunguilla ist Yunguilla. Genau das macht die Gemeinde zu einem wunderschönen, ruhigen Platz auf Erden, mit mehr als genug Anziehungskraft für den nachhaltigen Tourismus.
Was sind eure Geheimtipps für Ecuador?